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Titel
Bohemia docta. K historickým kořenům vědy v českých zemích [Zu den historischen Wurzeln der Wissenschaft in den böhmischen Ländern]


Herausgeber
Franc, Martin; Kostlán, Antonín; Míšková, Alena
Erschienen
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Surman, Leibniz Graduate School, Marburg

Das im 17. Jahrhundert von Bohuslav Balbín verfasste und 1777 veröffentlichte Werk „Bohemia docta“ nehmen die Autoren des gleichnamigen Sammelbandes als Ansatz, um die Entwicklung außeruniversitärer wissenschaftlicher Institutionen vom 16. Jahrhundert bis zur Entstehung der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (1992) nachzuzeichnen. Die in 12 größere Kapiteln und mehrere kleinere Beiträge untergliederte Publikation stellt damit, wie die Autoren unterstreichen, die erste Gesamtübersicht über die Entwicklung der außeruniversitären Wissenschaftsstrukturen auf dem Gebiet der jetzigen Tschechischen Republik dar. Die Beiträge betonen die Bedeutung von Veränderungen des Staatsgebildes ebenso wie interkulturelle Kontakte im Böhmisch-Mährischen Raum.

Von einem Überblicksbeitrag zur Organisation der Wissenschaften in Böhmen und Mähren zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert (Antonín Kostlán) ausgehend, werden die wichtigsten Institutionen im Einzelnen besprochen: Die „Böhmische Kaiser-Franz-Joseph-Akademie für Wissenschaften, Literatur und Kunst“ (1890-1918), von 1918 bis 1952 „Tschechische Akademie der Wissenschaften und Künste“; die „Königliche böhmische Gesellschaft der Wissenschaften“ (1784-1952); die „Masaryk-Akademie der Arbeit“ (1920-1952); den „Tschechoslowakischen Nationalen Forscherrat“ (1924-1952) und schließlich mit klarer Schwerpunktsetzung die nach 1952 alle diese Organisationen vereinigende „Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften“. Ergänzt werden diese Institutionengeschichten einerseits durch detaillierte Beiträge zum generellen Umfeld der außeruniversitären Forschung in den jeweiligen Perioden, andererseits durch kleinere Personalbiographien bedeutender Wissenschaftler und Mäzene sowie eine Beschreibung wichtigerer Förderfonds. Gesondert behandelt finden sich die deutschsprachigen Institutionen, wobei Fragen des böhmischen Plurikulturalismus und des interkulturellen Austausches mit den deutschen (weit weniger mit slowakischen) Wissenschaftlern in vielen Kapiteln angesprochen wird.

Die Autoren verorten die Entwicklung der jeweiligen Institutionen in einem breiten sozialen und politischen Kontext, vermeiden es aber einen einfachen Gegensatz zwischen Politik und Wissenschaft darzustellen. Die in der Habsburger Monarchie politisch aktive katholische Elite etwa war ab dem 18. Jahrhundert am Entstehen mehrerer kurzlebiger Sozietäten beteiligt, wobei die Autoren anmerken, dass im Vergleich zu Wien in Böhmen und Mähren den Wissenschaften infolge des Schutzes durch die Aristokratie relativ mehr Freiraum eingeräumt wurde. Der sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts verstärkende Trend zur Schaffung und Stabilisierung einer tschechischen Wissenschaftssprache steht zwar im Vordergrund der Darstellungen, die Autoren schreiben aber keine Konfrontationsgeschichte, sondern beschreiben eine durch einen geteilten Raum und gemeinsame Institutionen bedingte Koexistenz bis zum Zweiten Weltkrieg. Leider mündet dieses Narrativ dennoch in mehreren Fällen in den gut bekannten Ansatz von der „Desintegration“ Böhmens, auch wenn es in Bezug auf einige der Institutionen bereits Ansätze gibt, eine solche Erzählung zu relativieren.1

Als Hochphase der tschechischen Wissenschaft deklarieren die Autoren die Entwicklung in der Zwischenkriegszeit, wobei auch die Ursachen des institutionellen Gründungsbooms erörtert werden, wie das plötzliche Fehlen der früheren imperialen Institutionen (S. 270-271, 290-291) oder die Immigration von Forschern aus dem postrevolutionären Russland (S. 275-277). Die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende „Verwissenschaftlichung“ der Gesellschaft wird besonders gut anhand der wenig bekannten „Masaryk-Akademie der Arbeit“ sichtbar, die sich den Ideen des Scientific Managements widmete. Gerade diese Institution war international federführend, beispielsweise durch die Ausrichtung der ersten Tagung des Weltkongresses für wissenschaftliche Führungslehre im Jahr 1924. Infolge ihres Wirkens wurde auch der Sitz des in Paris gegründeten Comite International de l'Organisation Scientifique nach Prag verlegt (S. 309).

Die Entwicklung deutschsprachiger Institutionen wird in einem gesonderten Kapitel von Alena Míšková vor allem am Beispiel der „Gesellschaft zur Förderung Deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen“ thematisiert. Trotz ihrer intensiven Tätigkeit aber konnte diese Gesellschaft weder politische Anerkennung finden noch eine intensive Publikationstätigkeit entwickeln, denn – so Míšková – Prag war nach wie vor dem Ersten Weltkrieg für die Mehrheit der Gelehrten in der Regel nur eine Zwischenstation auf dem Weg an eine größere Universität (S. 239). In den Jahren des deutschen Reichsprotektorates erfolgte der Umbau zu einer Akademie, womit eine Veränderung der Forschungsziele entsprechend der nationalsozialistischen ideologischen Vorgaben und vor allem ein Mitgliederverlust aufgrund der Arisierung einhergingen (S. 242-244).

Auch für die tschechischen Institutionen bedeuteten die Entwicklungen unter der deutschen Besatzung und später in der Sowjetzeit einen der Zwischenkriegszeit entgegengesetzten Trend. Das Protektorat brachte vielen Organisationen einen Schwund an Mitgliedern durch Tod oder Emigration, bestanden aber mit begrenztem Einfluss und finanziellen Mitteln fort. Zudem schlossen die den Nürnberger-Gesetze unterworfenen tschechoslowakischen Institutionen in hoher Zahl ihre jüdischen Mitglieder aus (zum Beispiel S. 123). Als die institutionsgeschichtlich wichtigste Zäsur wird von den Autoren des Buches das Jahr 1952 bestimmt, in dem die Gründung der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erfolgte. Zwar wurden im Zuge dieser Reform aufgrund ideologischer Vorgaben mehrere Forscherpersönlichkeiten ausgeschlossen sowie auch Institute geschlossen (S. 428-430), wobei Míšková unterstreicht, dass die Initiativen von einer jungen pro-sowjetischen Forschergeneration ausgingen, sekundiert von dem als „tragikomischer Strohmann“ (S. 485) apostrophierten Akademiepräsidenten Zdeněk Nejedlý. Die durchaus ambivalente „Deformation und Modernisierung“ (S. 434) der Sowjetzeit verlief wellenartig – der Neuformation der Wissenschaft nach sowjetischen Modell folgte eine bis 1968 zunehmende Liberalisierung und Internationalisierung. Dem Ende des Prager Frühlings, an dem mehrere Mitglieder der Akademie maßgeblich beteiligt waren, folgte eine „Verwüstung der Wissenschaft“ (S. 475), von der etwa ein Fünftel der Akademiker betroffen war.

Neben Politik und Ideologie stellt die Frage der internationalen Beziehungen einen zweiten Schwerpunkt der Beiträge dar. Wie die Autoren unterstreichen, war die Internationalisierung von Beginn zwar kein selbstverständlicher, aber ein zunehmend wichtiger Punkt der Selbstverortung der tschechischen Wissenschaftler. Bereits in der von Josef Hlávka begründeten „Kaiser-Franz-Joseph-Akademie“ war die Spannung zwischen Wirken nach innen und nach außen ein wiederkehrendes Thema, verbunden mit der Frage nach den Entwicklungslinien der tschechischsprachigen Wissenschaft. Die 1895 begonnene Publikation des auf ein internationales Publikum zielenden „Bulletin International“ und die zunehmend auf Kontaktaufnahmen und Austausch beruhende Politik der Akademie wurden in der Tschechoslowakei weitergeführt. Die Intensivierung des Austausches mit dem Ausland bildete sowohl einen der Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik der Zwischenkriegszeit als auch der unmittelbaren Nachkriegszeit. In den Jahren des Staatssozialismus war „Ausland“ nicht immer auf die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten beschränkt; vor allem in den Liberalisierungsperioden wurden die durch politischen Druck unterbundenen Kontakte mit „dem Westen“ intensiviert. Gleichwohl stellen die Autoren die Orientierung auf und die Anbindung an die internationale Wissenschaftsnetzwerke nicht als selbstverständliche Ziele dar. Die Frage nach der Konzentration auf die interne Entwicklung oder der verstärkten Partizipation an internationalen Netzwerken führte stets zu Streitigkeiten, vor allem in den Zeiten des institutionellen Monopols der Prager Akademie. Nachdenklich stimmt jedoch, dass mehrere Autoren ein positiv besetztes und unkritisches Konzept der „westlichen Wissenschaft“ verwenden. So wird die Orientierung nach Osten nicht als Internationalisierung wahrgenommen und sogar als entgegengesetzter Trend beschrieben.

Die Konzentration auf die tschechischen Institutionen verdeckt in einigen Kapiteln den multikulturellen Alltag in der Habsburgermonarchie. Für die Zeit der Tschechoslowakei bleiben die Autoren eindeutig tschechozentrisch. So werden etwa die „Union tschechischer Mathematiker und Physiker“ (1862 als „Verein für freie Vorlesungen in Mathematik und Physik“ gegründet) oder der Naturhistorische Verein „Lotos“ in Prag als von der Gründung an eindeutig Tschechische vs. Deutsche Institutionen vorgestellt (S. 160 u. 234), obgleich sich die Nationalisierung beider Institutionen nur schrittweise vollzog und jeweils mehrere Jahrzehnte dauerte. Wenn einige Autoren nur die tschechischen Titel von Büchern angeben, führt dies ebenfalls zu inhaltlichen Verzerrungen, etwa bei den Kurzbiographien von Josef Dobrovský oder František Palacký (S. 139-141).

Trotz dieser Kritikpunkte und des positivistisch-deskriptiven Ansatzes haben die Autoren von „Bohemia Docta“ einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Erforschung außeruniversitärer Einrichtungen in den böhmischen Ländern, sondern der gesamteuropäischen Wissenschaftslandschaft geliefert. Die in dem reich illustrierten und gut lesbaren Band versammelten Texte laden zur Diskussion über die historische und gegenwärtige Rolle der außeruniversitären Forschungsinstitute ein, die nicht nur in der Tschechischen Republik seit Jahren verstärkt geführt wird.

Anmerkung:
1 Harald Binder u.a. (Hrsg.), Místo národních jazyků ve výuce, vědě a vzdělání v Habsburské monarchii 1867-1918 [Position of National Languages in Education, Educational System and Science of the Habsburg Monarchy 1867-1918], Prag 2003.

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